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Neue Zürcher Zeitung

13. März 2002

Regula Heusser

Zwangsmassnahmen gegen Unangepasste

Ein Stück Zürcher Fürsorge- und Psychiatriegeschichte

Eine parlamentarische Initiative von Nationalrätin Margrith von Felten galt 1999 Fragen zur Entschädigung gegenüber Opfern von Zwangssterilisationen. Gemeinderätin Katharina Prelicz verlangte in einer Interpellation, die Stadtzürcher Sozialpolitik in diesem Bereich sei aufzuarbeiten. Die vom Sozialdepartement in Auftrag gegebene Studie, in der Zwangsmassnahmen der Fürsorge und der Anstaltspsychiatrie zwischen 1890 und 1970 unter die Lupe genommen werden, ist vorgestellt worden.

He. Mit der Beleuchtung der Geschichte der zürcherischen medizinisch-fürsorgerischen Praxis zwischen 1890 und 1970 wurde der Historiker Thomas Huonker vom Sozialdepartement der Stadt Zürich beauftragt. Ihm wurde Einsicht in alle diesbezüglichen im Stadtarchiv lagernden Akten gewährt. Zudem hat er ein Dutzend Fallgeschichten von Mündeln, die in den Kliniken Burghölzli und Rheinau untergebracht waren, ausgewertet.

An der Präsentation des Berichtes* erinnerte Monika Stocker, als Vorsteherin des Sozialdepartements auch Präsidentin der Vormundschafts- und der Fürsorgebehörde, daran, dass staatliches Vorbeugen nie ohne Zwang auskommt. Die Einschätzung, wann ein Mensch nicht mehr fähig ist, selbstverantwortliche Entscheide zu treffen, werde aber heute auf Grund breiter wissenschaftlicher Erkenntnis und in Respektierung der Menschenrechte vorgenommen. Der Bericht über das aus heutiger Sicht skandalöse Vorgehen veranlasse alle im Bereich Tätigen dafür zu sorgen, dass sich eine solche Praxis nicht wiederholt. Und die Öffentlichmachung habe dazu beizutragen, den Betroffenen und ihren Angehörigen einen Teil ihrer Würde zurückzugeben. Für eine allfällige materielle Entschädigung fehlt die Rechtsgrundlage, auf Bundesebene befasst sich damit die Rechtskommission des Nationalrates.

Zwangsfürsorge zwischen 1890 und 1970

Kern der fürsorgerischen Praxis bei der Prävention und Behandlung von Alkoholismus, Kriminalität und Prostitution waren die Überwachung von Individuen und die «geschlossene Fürsorge». Sozialhygienische Massnahmen - unter dem Einfluss der damals modischen Rassenhygiene - sollten die «Erzeugung von sozial, geistig und moralisch minderwertigen Menschen» verhindern. Eheverbot, Sterilisation, Kastration gehörten zu diesen Massnahmen. Versorgung in Anstalten gemäss Administrativhaft ohne Gerichtsverfahren war bis in die sechziger Jahre rechtens, Rekurse gegen psychiatrische Zwangseinweisung sind im Kanton Zürich erst seit 1981 möglich.

Der Bericht wirft zunächst einen Blick auf die Institutions-Geschichte des Fürsorgewesens der Stadt Zürich seit dem 15. Jahrhundert, die u. a. eine wenig bekannte Topographie der Stadt aufscheinen lässt. Wo heute das Heimatwerk zu Hause ist, war einst das Frauenkloster Oetenbach, in dessen Gebäuden 1637 ein Zuchthaus für Waisen eingerichtet wurde. Bei der Predigerkirche befand sich ein Spital für geistig und körperlich Behinderte, die in der angegliederten «Fabrik» Zwangsarbeit verrichteten und bei Renitenz in dunklen Löchern zugrunde gingen.

Die moderne Heilanstalt Burghölzli wurde 1870 gebaut, ihr folgten immer mehr und spezialisiertere Institutionen. Mit der Armenfürsorge- Gesetzgebung wurden die Fürsorger Experten für Sozial- und Bevölkerungspolitik, immer unter Mitwirkung der Medizin. Huonker illustriert die Praxis mit Fallbeispielen, die auf den «Erkundungs-Berichten» der Fürsorgebehörden basieren, wie sie seit 1910 und bis 1990 im Umfang von über 100 000 Dossiers erstellt wurden.

Als Opfer von Zwangspraktiken werden auch Jenische, mit denen sich der Autor im Rahmen der Bergier-Kommission bereits befasst hat, aufgeführt. Dass der Schriftsteller Friedrich Glauser Insasse psychiatrischer Kliniken war und u. a. als Morphinist unter Ehe- und Kinderverbot stand, wird - nicht zum ersten Mal - ausführlich und eindrücklich dokumentiert.

Rassenhygiene in der Schweiz

Ein Kapitel des Berichts befasst sich mit der Verbreitung rassenhygienischen Ideengutes in der Schweiz. Zitiert wird aus einem Reisebericht, in dem sich der Burghölzli-Direktor und renommierte Psychiater August Forel 1896 abschätzig über Neger und Mulatten äussert. In seinem 1915 verfassten Programm für eine neue Weltordnung plädierte er dann für eine Rassenhierarchie. Die Schweiz war zeitlich vor Skandinavien führend in rassenhygienischer Theorie und Praxis, wie sie dann in Hitlerdeutschland im grossen Stil geübt wurde. Noch früher waren die Vereinigten Staaten, wo Sterilisationen bereits seit den 1850er Jahren eine (gesetzliche) Massnahme gegen Verbrecher und Geisteskranke war.

August Forel, Eugen Bleuler und ihre Schüler wirkten nicht nur in der psychiatrischen Praxis, sondern auch in der universitären Lehre. 1934 war Zürich Gastgeberin eines internationalen Kongresses von Rassenhygienikern. Der deutsche Psychiater Ernst Rüdin, mit dem die Schweizer Kollegen in engem Austausch standen, war massgeblich beteiligt an der Formulierung des «Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses», das das Deutsche Reich im Juli 1933 verabschiedete, und wurde 1944 als «Bahnbrecher der menschlichen Erbpflege» ausgezeichnet.

Unfruchtbarmachung, eugenisch indiziert

Huonker erzählt nicht nur über die Zürcher Praxis und nicht chronologisch, er macht zeitliche wie örtliche Sprünge. Abwägungen zwischen Eugenik und Euthanasie wurden schon in den zwanziger Jahren von Fachärzten angestellt. Mit§unter diente Sparta als Vorbild, denn damals seien Schwache und Debile in einem humanen Verfahren beseitigt statt lange ernährt worden.

Manche historische Fälle von Sterilisation und Kastration - u. a. mit Todesfolge -, die der Autor darstellt, stammen aus anderen Kantonen. Dass im Kanton Waadt die Sterilisation Geisteskranker anders als in den übrigen Kantonen und erstmals in Europa 1928 gesetzlich geregelt wurde, wird zu Recht aufgeführt. Denn die Eingriffe waren in Zürich nicht etwa seltener. Hier sicherten sich die ausführenden Ärzte juristisch ab, indem sie den Kandidatinnen und Kandidaten eine schriftliche Einwilligung abnahmen. Dabei wurde Druck ausgeübt, lebenslängliche Verwahrung oder Eheverbot angedroht bei Verweigerung der Operation.

Hoher Anteil «minderwertiger» Mitbürger

Huonker erwähnt auch Ärzte, die sich früh gegen Vererbungstheorien wandten und stattdessen gesellschaftlichen Wandel forderten. Otto Diem warnte bereits 1902 vor der Gefahr, mit Statistiken («Irrenzählungen») künftige horrende Kosten an die Wand zu malen und Eugenik als billige Lösung zu propagieren. Doch vorherrschend war das Zusammenspiel von Krankenstatistik (3,5, bis 4,5 Prozent der Zürcher Bevölkerung wurden je nach Zählung als nicht vollwertig bezeichnet), Vererbungslehre und Rassenhygiene. Eheberatungsstellen wurden im Dienst der Eugenik installiert. Zur erwünschten Verhinderung der Reproduktion erblich schwer kranker Menschen äusserten sich auch Autoren wie Rudolf Lämmel, die grundsätzlich gegen Hitlers Politik eingestellt waren. Und der Verleger Emil Oprecht veröffentlichte 1936 Lämmels Buch über die Grundprobleme der Rassentheorie.

Eingriffe quantitativ schwer zu beziffern

Ein weiteres Kapitel befasst sich mit Kastration und anderen «Therapien» an Exhibitionisten und Homosexuellen. Die Anzahl der Eingriffe im untersuchten Zeitraum beläuft sich, wie bisher angenommen, auf einige Dutzend Kastrationen. Die Sterilisationen von Frauen waren um ein Vielfaches häufiger. Weniger Beachtung fanden bisher erzwungene Schwangerschaftsabbrüche, über die auch der vorliegende Bericht angesichts der Falschdeklarierung der Eingriffe und der hohen Dunkelziffer keine quantitativ verlässliche Angaben macht. Im betrachteten Zeitraum sei mit Tausenden von Eingriffen zu rechnen, vielleicht auch mit einer fünfstelligen Zahl. Mehr Gewissheit besteht darüber, dass 90 Prozent der unfruchtbar Gemachten weiblich waren und dass vorwiegend Randgruppen und Angehörige der Unterschicht betroffen waren.

Das Einverständnis mit der eugenischen Indikation für Sterilisationen und Schwangerschaftsabbrüche reichte bis ins linke politische Lager und bis über das Kriegsende hinaus. Hans Binder etwa, Leiter der psychiatrischen Poliklinik Basel von 1932 bis 1942, dann der Klinik Rheinau (1942 bis 1964) und gleichzeitig Gründer der psychiatrischen Poliklinik Winterthur (1945), war jahrelang psychiatrischer Gutachter des Kantons Zürich. Dass die Zürcher Eheverbotspraxis noch lange bestand, belegt ein zitierter Fall von 1970, bei dem der Leiter der Universitätsklinik einem Tessiner Hilfsarbeiter die Ehefähigkeit absprach, nachdem seine Braut bereits schwanger geworden war, und der Stadtpräsident dem Gutachten folgte, allerdings im Stadtrat dann überstimmt wurde.

*Anstaltseinweisungen, Kindswegnahmen, Eheverbote, Sterilisationen, Kastrationen. Bericht von Thomas Huonker. Sozialdepartement der Stadt Zürich, 2002. Fr. 30.-.